„Es ist ein Museum, in dem die Atmosphäre einer Zeit aufbewahrt wird“, denkt der Dramatiker Otto Lambeck beim Besuch von Ewests Weinstube in der Behrenstraße. Es ist gleichzeitig die beste Charakterisierung, die man für Gabriele Tergits Debütwerk „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ finden kann.
Tergits Roman erschien 1931 und spielt zwei Jahre vorher. Lassen wir mal „Käsebier“, den Volkssänger in der Hasenheide, außer acht. So wäre Tergits Roman heute einerseits eine Gesellschaftssatire – wenn Käsebiers Schicksal nicht so traurig wäre – und andererseits ein politischer Roman, den ich persönlich gleichsetzen möchte mit Ingmar Bergmanns Film „Das Schlangenei“. Hier wie dort wird ein Deutschland gezeichnet, dessen Ordnung am Zerbrechen ist und das durch Abschottung und Passivität die von der Weimarer Republik geborene demokratische Idee in Frage stellt.
Tergit beschreibt das Aufkommen des Nationalsozialismus mit all seiner Brutalität und Unmenschlichkeit und macht im selben Moment klar, dass Hitler und seine NSDAP noch immer nicht ernst genommen wurden. Wie sonst erklärt es sich, dass einer ihrer Protagonisten in beständiger Regelmäßigkeit zynisch grüßt: „Heil und Sieg und fette Beute!“?
Gabriele Tergit, Tochter aus wohlhabenden Haus, schrieb Ende der 1920er Jahre als Gerichtsreporterin für den Berliner Börsen-Courier, die Vossische Zeitung und die Kulturzeitschrift Die Weltbühne. Tergit befand sich damit in guter pazifistischer Gesellschaft von Kurt Tucholsky (er leitete die Weltbühne bis 1927) und dessen Nachfolger Carl von Ossietzky. Sie selbst stand auch weit oben auf der Liste der Gegner der NSDAP. Insbesondere, als sie Prozesse gegen NSDAP-Größen im Berliner Kriminalgericht besuchte und unter anderem ein Verfahren gegen die Fememörder der Schwarzen Reichswehr im Jahre 1927 in der Weltbühne mit dem Satz: Unsichtbar steht ein großes Hakenkreuz vor dem Richtertisch charakterisierte.
Und auch im „Käsebier“ beschreibt sie den Faschismus in einem Satz, den sie den Redakteur Gohlisch sagen lässt: „Dieser einzige Satz erklärt den ganzen Faschismus. Ihr seid feige Sklaven, ihr braucht Autorität.“
Von diesen politischen Aspekten einmal abgesehen, ist „Käsebier“ ein typisches Beispiel, das in seiner gesellschaftlichen wie auch sozialen Fragwürdigkeit viele Parallelen zu heute vorweist. Das Gesundheitssystem war seinerzeit ebenso marode wie heute. Zumindest wenn man Dr. Krone glauben darf, den Gabriele Tergit sagen lässt: „90 Prozent der Bevölkerung sind in einer Krankenkasse, die wenigen übrig gebliebenen gehen zu einem Professor. Der Professortitel ist blankes Gold.“
Die Empfehlung, in die Brunnenstraße im seinerzeitigen Arbeiterbezirk Wedding zu ziehen, lehnt Dr. Krone mit dem Argument ab, er könne da doch nur Pfuscharbeit leisten: „Bei 100 Patienten am Tag, auf den Patienten zehn Minuten, wären es 16 Stunden Arbeit. Macht man es sich aber bequem, kann von einer gründlichen Untersuchung gar nicht mehr die Rede sein.“ Ergo: Lieber gar nichts tun und (übers Gesundheitssystem) jammern. Kommt das bekannt vor?
Das Buch, das die Ereignisse in der fiktiven Berliner Rundschau spiegelt – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Magazin, das von der Berliner CDU seit 1975 quartalsweise als Parteizeitung heraus gegeben wird – spielt die Symphonie einer großen, einer aufregenden, einer großartigen Stadt. Und es mag durchaus sein, dass Gabriele Tergit ihren Roman an den vier Jahre vor ihrem Buch erschienenen Film „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ von Walther Ruttmann angelehnt hat.
Wie auch immer; es ist Randomhouse und dem angeschlossenen btb-Verlag zu danken, dass dieses kolossale Gemälde eines Berlin zwischen den Zeiten – hier die zu Ende gehende Weimarer Republik, dort der Beginn eines der düstersten Kapitel der deutschen Geschichte – nicht vergessen wird.